Normalerweise markiert das Zeugnis vor den Sommerferien einen ganz wichtigen schulischen Abschnitt. Kinder und Jugendliche sind aufgeregt und Eltern nervös. Bei den guten Schülerinnen und Schülern geht es um Wertschätzung und Bestätigung ihrer Leistungen, bei den schlechten häufig auch um die Versetzung in die nächste Klasse. Doch was bedeutet das Zeugnis im Corona-Jahr?
Homeschooling und Präsenzunterricht
Auch wenn es bundesweit inzwischen sehr unterschiedliche Vorgehensweisen bezüglich der Beschulung von Kindern und Jugendlichen gibt, so waren doch im März und April alle Schulen geschlossen. Wochenlang fand der Unterricht nicht im Klassenzimmer, sondern halbwegs digital statt. Mehr recht als schlecht im Homeschooling, wenn man den Erfahrungen und der Berichterstattung glauben möchte. Wie soll das in einem Zeugnis abgebildet werden?
Wie sollen die Leistungen im Zeugnis beurteilt werden?
Recht schnell ließen einige Bundesländer verkünden, dass es ein Sitzenbleiben in diesem Jahr nicht geben werde. Jedenfalls nicht gegen den Willen der Kinder, Jugendlichen und Eltern. Die meisten Bundesländer schlossen sich dieser Sichtweise an, auch wenn es jetzt teilweise andere Erfahrungsberichte gibt. Mal abwarten, inwieweit eine nicht Versetzung in diesem Jahr rechtlich haltbar ist. Aber das ist ein anderes Thema.
Lernen war ungerecht – ein Zeugnis wäre es auch
Es ist ganz klar, dass beim Homeschooling der Ungerechtigkeit Tür und Tor geöffnet sind und waren. Dafür sprechen eine ganze Reihe von Punkten, die auch so schnell nicht nachhaltig verändert werden können
1. digitale Ausstattung
- Die digitale Ausstattung der Kinder und Jugendlichen ist sehr unterschiedlich. Längst nicht alle haben die Möglichkeit, einen PC oder einen Drucker zu benutzen oder sich online mit der Schule und den Klassenkameraden auszutauschen.
2. familiäre Unterschiede
- Die Unterstützung durch die Eltern ist ebenfalls sehr unterschiedlich. Zum einen fehlt Eltern in systemrelevanten Berufen massiv die Zeit, sich um die schulische Betreuung ihrer Kinder zu kümmern.
3. Überforderung der Eltern
- Nicht wenige Eltern sind mit der Vermittlung des Schulstoffes total überfordert. Sei es, dass sie die deutsche Sprache nicht gut genug beherrschen oder den Schulstoff der höheren Klassen selber weder verstehen noch vermitteln können.
4. Überforderung der Lehrenden
- Auch die Lehrer haben bisher kein einheitliches Bild abgegeben. Manche sind im Bereich der digitalen Kompetenz vollkommen unerfahren und daher auch schlichtweg überfordert. Andere müssen selber Kinder betreuen, sodass ihnen die Zeit fehlt, sich in neue Unterrichtsmöglichkeiten einzuarbeiten.
5. Fehlende Unterstützung
- Letztlich unterstützen die Schulen ihr Lehrpersonal weder zeitlich, noch technisch oder personell. Hier profitieren Schülerinnen und Schülern von digital interessierten Lehrkräften, denen das E-Learning Spaß macht.
Die Auswirkungen werden sich noch zeigen
Noch weiß niemand, wie lange die schwierige Unterrichtssituation anhalten wird. Vielleicht gibt es eine zweite Welle und möglicherweise fallen Lehrerinnen und Lehrer zu einem hohen Maß auch künftig unter die Risikogruppen. Es wird auch eine ganz große Anzahl von Kindern und Jugendlichen geben, die in den letzten Wochen und Monaten große Lernlücken aufgebaut haben. Ihnen fehlt nicht nur der neue Lernstoff, sondern sie haben auch Teile des alten Wissens durch fehlende Wiederholungen oder Übungen verlernt. Und wie wird das nächste Halbjahreszeugnis aussehen? All das müsste in einem Zeugnis differenziert aufgelistet und gerecht bewertet werden. Doch das ist unmöglich!
Alles noch mal auf Neustart?
Vermutlich wäre das eine Lösung. Der Unterricht nach den Sommerferien sollte dort ansetzen, wo er im März aufgehört hat. Und zwar zunächst einmal mit der Wiederholung des alten Lehrstoffes, an den dann angeknüpft wird. Lernpsychologisch wäre das richtig, doch in der Praxis sieht es für jedes Kind anders aus. Manche werden sich langweilen, unterfordert sein und die Motivation verlieren. Andere wiederum sind überfordert, verlieren die Lust und fühlen sich dumm.
Kein Zeugnis, aber mehr Pädagogen
Um nach den Sommerferien sinnvoll, gerecht und clever mit Schülerinnen und Schülern weiterzuarbeiten, halte ich drei Punkte für wichtig.
- Das Zeugnis wird ersatzlos gestrichen, alle Kinder bekommen eine Teilnahmebestätigung und werden in die nächste Klasse versetzt. Hier halte ich eine lobende Erwähnung in Bezug auf das Verhalten in Coronazeiten für absolut wichtig.
- Zusätzliche Lehrkräfte, möglicherweise auch Pädagogikstudentinnen und -studenten, machen nach den Sommerferien eine Lernstandsanalyse bei jedem einzelnen Schüler. Auf dieser Basis wird dann ein individueller Lernplan, online oder offline, ausgearbeitet.
- Parallel dazu nehmen alle Lehrer an Fortbildungen teil, die ihnen ein ganzheitliches Konzept vermitteln, wie das Homeschooling funktionieren kann und sinnvoll mit dem Präsenzunterricht kombiniert werden kann.
Selbstverständlich muss dafür gesorgt werden, dass alle Schülerinnen und Schüler Zugang zum Internet haben und über entsprechende Geräte verfügen, um ohne Probleme am E-Learning teilnehmen zu können.