Jetzt möchte ich mich doch mal zum Thema Wahnsinn Einschulung melden. Seit Wochen und Monaten verfolge ich die Diskussionen auf Facebook von aufgeregten Eltern, deren Kinder jetzt in die Schule kommen. Es ist unglaublich, was für ein Wirbel darum gemacht wird. Und ich bin überzeugt davon, dass das den meisten Kindern überhaupt nicht gut.
Nur Einschulung oder doch schon Doktortitel?
Warum? Die Erwartungen auf die Schule werden bis ins Unermessliche gesteigert und dann kommt bei vielen Kindern der tiefe Fall. Es ist nämlich gar nicht so lustig, jeden Tag pünktlich in der Schule zu sein, sich mit anderen Klassenkameraden messen zu müssen und plötzlich unter Leistungsdruck zu stehen. Der kleine Prinz oder die kleine Prinzessin sind in der Schule nur noch ganz normales Fußvolk.
Der Hype um die Einschulung suggeriert den Kindern jedoch etwas ganz anderes. Die meisten denken, dass nun ein völlig anderes, spannendes Leben für sie beginnt. Sie können plötzlich lesen, rechnen und schreiben, werden mit Geschenken überschüttet und bekommen unfassbar viel Aufmerksamkeit. Warum sage ich das?
Die Schultüte platzt aus allen Nähten
Beim Inhalt der Schultüten, die ich bisher gesehen habe, denke ich an Weihnachten und Geburtstag zusammen. Nicht nur, dass die Tüten super groß und super individuell sind, in ihnen befinden sich halbe Spielzeuggeschäfte und jede Menge digitaler Technik. Was bedeutet das für die Kinder? Die meisten denken, dass ihnen so eine Schultüte zusteht, denn sie werden jetzt ja Schulkind.
Vielleicht glauben sie auch, dass das nun so weitergeht. Geschenke für gute Noten und für´s Zeugnis. Dabei haben die Kinder vor der Einschulung noch nichts für die Schule geleistet. Sie haben sich noch nicht in der Klasse, mit den Lehrern oder beim Lernen bewährt und wissen auch gar nicht, was von ihnen erwartet wird. Das ist doch Wahnsinn Einschulung, oder?
Die Kleiderfrage beschäftigt Mütter monatelang
Ganz schlimm finde ich persönlich die kleinen Jungen in Anzügen und die Mädchen in Ballkleidern – mit Hochzeitsfrisuren. Ebenso wichtig wie die Kleidung der Kinder scheint oft auch die Kleidung der Mütter zu sein. Es werden Adressen ausgetauscht, Tipps gegeben und Kleidervorschläge gepostet. Durchwachte Nächte, Herzrasen und Versagensängste vor dem Tag der Einschulung?
Hoffentlich verwenden die Eltern genauso viel Energie darauf, die Feinmotorik ihrer Kinder zu schulen (viel basteln, schneiden, Stift halten) und ihre Konzentration zu trainieren. Das Lernen in der Schule ist nämlich anstregned und eine echte Herausforderung.
Die Einschulungsfeier wird zum Event
Monatelang vorher, bis zu einem Jahr vorher, werden Restaurants belegt, um den Tag gebührend feiern zu können. Wahnsinn Einschulung! Und dann wird der große Tag regelrecht inszeniert. Die Verwandtschaft und Freunde werden eingeladen, es gibt ein großes Familienfest mit spezieller Torte, Reden und einem Festesssen.
Das Kind wird gefeiert, als hätte es etwas Besonderes geleistet. Oder feiern sich da nicht vielmehr die Eltern? Manche Eltern beschweren sich sogar darüber, dass die Einschulung an einem Wochentag stattfindet, an dem viele arbeiten müssen. So könne man ja gar nicht richtig feiern. Glauben Sie nicht? Doch, ist so.
Arme Kinder, ihr werdet euch noch wundern
Ich arbeite seit über 30 Jahren mit Kindern, denen es in der Schule nicht gut geht. Sie können die Leistungsanforderungen nicht bedienen, sind unkonzentriert, haben immer öfter Schwierigkeiten mit der Anerkennung der Autorität von Lehrkräften und oft eine miserable Handschrift. Viele Kinder haben eine zu geringe Frustrationstoleranz und geben schnell auf.
Kein Wunder, stehen ihre Erwartung an die Schule doch in keinem Vergleich zu Realität. Ein wunderschönes Kleid, Lackschuhe, ein Anzug, eine bombastische Schultüte und eine gigantische Feier haben eben keinerlei positiven Einfluss auf den Alltag in der Schule. Möglicherweise bewirken sie sogar das Gegenteil.
Arme Lehrer, ihr müsst die Erwartungen zurecht rücken
Alle Kinder müssen in die Schule gehen, in Deutschland besteht Schulpflicht. Es ist also überhaupt nichts Besonderes, wenn ein Kind vom Kindergarten in die Schule wechselt. Frage ich Lehrer, höre ich, dass die Kinder immer mehr erwarten und immer weniger in die Schule mitbringen.
Sie können sich nicht gut konzentrieren, hören nicht lange zu, haben eine schlechte Feinmotorik und nicht selten egoistische Züge. Kein Wunder! Wer wenig gefordert wird, viel am Monitor sitzt und zuwenig Bewegung und Naturerlebnisse hat, der kann sich nicht entwickeln. Nennt es Pessimismus – aber Studien zeigen, dass die Leistungen der Kinder stetig schlechter werden.
Fast 20 Prozent der Kinder in Deutschland können nach der Grundschule nicht lesen – so ein Ergebnis der letzten Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (kurz IGLU). Auch die weiterführenden Schulen klagen, dass die Kinder zunehmend Probleme mit komplexen Texten haben. Das ist kein Grund zum Feiern. Aber es ist ein Grund, sein Kind stark zu machen und seine Anstrengungsbereitschaft zu unterstützen. Diese Zahlen machen den Wahnsinn Einschulung nicht besser.
Liebe Eltern, denkt doch mal darüber nach!
Ganz bestimmt wollt ihr nur das Beste für eure Kinder, davon bin ich überzeugt. Versetzt euch in die Lage der Erstklässler, was würde euch gut tun? Ist das Handy in der Schultüte wirklich eine gute Idee? Muss die Schultüte größer als das Schulkind sein? Müssen Familienmitglieder wegen der Einschulung neu eingekleidet werden oder geben wir damit nicht auch für das Klima ein falsches Signal? Ist eine groß geplante Feier zur Einschulung wirklich nötig oder wäre es nicht viel entspannter, nur mit der Familie Eis essen zu gehen?
Es ist immer schön, wenn Erwartungen übertroffen werden.
Es ist immer frustrierend, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden.
Schülerinnen und Schüler brauchen Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Motivation und Leistungsbereitschaft. Beides haben Kinder nicht von Geburt an, sondern sie müssen es mühsam erlernen. Dies geschieht nicht dadurch, dass ihnen alle Probleme aus dem Weg geräumt werden. Vielmehr müssen sie die Erfahrung machen, dass sie sehr wohl dazu in der Lage sind, schwierige Situationen zu überstehen und Probleme zu lösen.
Vincent hat sich die Schule anders vorgestellt
Vincent ist ein Einzelkind und lebt mit seinen Eltern in einer Großstadt im Rhein-Main-Gebiet. Mit sechseinhalb Jahren kommt er in die Schule. Schon seit einem halben Jahr wird er im Kindergarten auf die Einschulung vorbereitet. Er ist in der Schulgruppe und sehr stolz darauf, dass er jetzt zu den ältesten gehört. Schon zu Weihnachten hatte einen wunderschönen neuen Ranzen bekommen und dazu passend Turnbeutel und Mäppchen. Dieser Schulranzen steht nun auf dem Schrank in seinem Kinderzimmer und wartet darauf, endlich benutzt zu werden.
Fast ein halbes Jahr lang ist die Einschulung von Vincent das Hauptthema auf allen Familienfesten.“ Du kannst ja bald in die Schule, freust du dich denn darauf?“ „Vincent, was willst du denn mal werden? Da du jetzt in die Schule kommst, hast du dir bestimmt darüber schon mal Gedanken gemacht?“ Und dann folgen natürlich auch die ganzen Warnungen, dass mit der Schule der Ernst des Lebens anfängt und sich überhaupt alles verändert.
Vincent weiß eigentlich gar nicht so genau, was ihn nach den Sommerferien erwartet. Er ist sich nur ganz sicher, dass es etwas Tolles ist. Schließlich dreht sich sein ganzes Leben seit einem halben Jahr um diese Einschulung. Seine Mutter überlegt wochenlang, was er und sie wohl anziehen werden. Sein Vater freut sich darauf, dass Vincent bald rechnen kann. Alle sind sich einig, dass die Schule wundervoll werden wird. Schließlich ist Vincent ja ein cleveres Kerlchen und dürfte leistungsmäßig überhaupt keine Probleme haben.
Endlich ist der große Tag da und er wird festlich begangen. Alle Großeltern kommen und Vincent bekommt schöne Geschenke und eine große Schultüte. In der Schule ist er nur 1 Stunde, dann wird mit der Familie gefeiert. Es fühlt sich alles großartig an und Vincent kann es kaum erwarten, ab jetzt jeden Morgen in die Schule zu gehen. Anfangs läuft auch noch alles gut, aber dann…..
- Vincent hat an manchen Morgen einfach keine Lust so früh aufzustehen. Er möchte noch im Bett liegen bleiben, wie er es als Kindergartenkind manchmal gemacht hat.
- Hausaufgaben sind auch nicht so sein Ding, viel lieber möchte er nachmittags mit seinen Freunden spielen.
- Auch mit der Ordnung hat er es nicht so. In seinem Ranzen herrscht Chaos und er kommt auch mit den Heften und den Stiften immer wieder durcheinander.
- Schließlich gefällt es ihm nicht, dass er in der Klasse so weit hinten sitzt und noch keinen guten Freund gefunden hat. Mit der Lehrerin kommt er auch nicht so richtig klar, es gibt Tage, da spricht sie ihn überhaupt nicht an. Das ist Vincent nicht gewöhnt.
Bis zu den Weihnachtsferien ist der Glanz der Schule verblasst. Vincent hat sich das ganze anders vorgestellt, seine Erwartungen waren sehr hoch und sein Fall ist sehr tief.
Seine Eltern fragen sich inzwischen, ob sie vielleicht etwas falsch gemacht haben. Schule ist schließlich so etwas wie die Arbeit des Kindes, etwas ganz normales, dass jedes Kind in Deutschland besuchen muss. Schule ist nicht immer toll, aber eine Alternative dazu gibt es nicht. Vielleicht hätten sie die Erwartungen ihres Sohnes nicht zu hoch schrauben sollen, den Ball etwas flacher halten sollen. Dieses Versäumnis müssen sie jetzt ausbaden. Langsam kommen sowohl Vinzenz Eltern als auch der Junge selber in der Realität an. Schule macht Spaß, aber nicht immer, manchmal muss man eben einfach durchhalten.
Update: Facebook ist nicht sicher!
Wer es bis hier geschafft hat, dem sei noch ein Herzenswunsch mitgegeben. Von nur wenigen Tagen Facebook-Postings konnte ich 30 Kinderbilder mit vollständigem Namen, Wohnort, teilweise Schulname und Geschwisterbildern downloaden. So wie ich, kann hier JEDER genau das gleiche tun. Und wer wirklich glaubt, auf Elternseiten seien nur Eltern unterwegs…