Muss der Dreipunktgriff wirklich sein?

Josie ist 6 Jahre alt und im letzten Sommer in die Schule gekommen, eigentlich sollte sie den Dreipunktgriff beherrschen. Gestern Abend begleitete sie ihre Eltern zu einem Treffen mit Freunden. Im Restaurant packte sie ihre Malsachen aus, um sich nicht zu langweilen. Dann legte Josie los. Zunge zwischen die Zähne, Stift im Griff und rein in die Mal-Welt. Sie konnte sich wunderbar konzentrieren und auch ihre Feinmotorik ließ keine Wünsche offen. Allerdings hielt sie ihren Stift etwas merkwürdig. Sie vertauschte Zeigefinger und Mittelfinger. Trotzdem malte sie sehr detailliert und über einen wirklich langen Zeitraum.

Sorry Josi, dass ich dein Bild so schlecht fotografiert habe.

Pädagogen und Experten sind überzeugt davon, dass es eine richtige Schreibhaltung für Kinder geben. Es handelt sich dabei um den Dreipunktgriff, bei dem der Stift von Zeigefinger und Daumen gehalten wird und locker auf dem Mittelfinger liegt. So können Kinder ohne Druck für längere Zeit schreiben. Die Schrift wirkt flüssig und das Schreiben ist ohne Absetzen möglich. Doch viele Kinder halten ihren Stift vollkommen anders, auch Josie.

Motivation ist wichtiger als Korrektur

Ich habe überlegt, die Stifthaltung zu korrigieren. Dann habe ich mich dagegen entschieden. Stattdessen habe ich lieber die schönen Bilder gelobt und Josie darin motiviert, immer weiter zu malen. Letztlich ist es doch in Zeiten von Spracherkennung und einer Klick- und Wischkultur viel wichtiger, dass die Kinder überhaupt einen Stift in die Hand nehmen und damit schreiben oder malen. Viele Kinder sind ja überhaupt nicht mehr in der Lage lesbare Texte aufs Papier zu bringen.

Das bemängeln zunehmend auch Lehrerinnen und Lehrer in der Grundschule und ab der fünften Klasse. In den Klassenarbeiten und Tests fällt es ihnen immer schwerer, die Schrift zu entziffern. Dabei machen die Kinder viele Fehler, die nicht alleine auf die Stifthaltung zurückzuführen sind. Die häufigsten Fehler sind:

Lesetraining für Klasse 1 und 2

Häufige Fehler beim Schreiben ins Heft

  • Rechtschreibfehler
  • über die Linie schreiben
  • unleserliche Buchstaben und Wörter
  • zu starker Druck und Löcher im Papier
  • überschreiben und durchstreichen

Die kleine Josi hat sehr ordentlich geschrieben, auch wenn die Stifthaltung nicht korrekt war. Sie ist in der ersten Klasse erfolgreich und bekommt viel Lob von ihren Lehrerinnen und Lehrern. Josi schreibt nicht über die Zeile, macht kein Rechtschreibfehler und hat ein ordentliches Schriftbild. Soll sie nun wirklich in ihrer Schreibhaltung korrigiert werden? Schon jetzt würde das Umlernen der Stifthaltung viel Energie brauchen und ihr sicherlich den Spaß an dem Malen und Schreiben nehmen.

Werden wir überhaupt noch schreiben?

Ich denke, die Motivation ist wichtiger als die richtige Stifthaltung. Josi geht erst in die erste Klasse und ist sechs Jahre alt. In den nächsten Jahren wird die Spracherkennung sicherlich noch stark zunehmen. Inzwischen werden ja schon die gesamte Haustechnik, Fahrzeuge und ganze Bücher nicht mehr per Hand oder Tastatur geschrieben, sondern eingesprochen. Das ist die Zukunft für Josie. Vielleicht ist der Dreipunktgriff für sie längst eine antiquierte Altlast, wie die Telefonzelle, die Schallplatte oder der Walkman?

Als die Pizza kam, war es dann doch mit Josis Konzentration vorbei. Die Stifte wurden weggepackt und anstatt mit einem Dreipunktgriff das Messer zu verwenden, griff Josi beherzt mit den Fingern zu und verputzt hungrig ein großes Stück. So geht es auch!

Wertvolle Hinweise von Lehrkräften und Eltern

  • ständige Ermahnung durch die Lehrerinnen und Lehrer verdrängt die Lust am Schreiben
  • die Stifthaltung sollte das lockere Schreiben ermöglichen, sonst besser korrigieren
  • Kinder sollten beim Schreiben auf das Heft sehen können, ohne dass ihre Hand es verdeckt
  • irgendein Pinzettengriff sollte es sein, entweder 3, 4 oder 5 Finger
  • liegt der Stift nicht auf dem Mittelfinger aus, resultieren dann in höheren Klassen möglicherweise verkrampfte Schultern, Nackenschmerzen und Rückenprobleme daraus, deren Ursachen niemand erkennt