9 nachdenkliche Fragen zum Thema Lernen an die Expertin

Kundenmagazin ProVita

Fragen für ein Print-Interview zum Thema Lernen von der Autorin Barbara Lange an die Diplom Pädagogin Uta Reimann-Höhn. Ein Auszug des Interview ist in der Winterausgabe des Kundenmagazins der Krankenkasse ProVita im Dezember 2020 erschienen. In dem Beitrag geht es ganz allgemein um das Lernen, die Rolle der elektronischen Medien und die Trennung der Lernfelder Familie und Schule.

Lernen ist ein Lebensthema

Uta Reimann-Höhn ist Pädagogin, Lerntherapeutin, Autorin und Videocreator des Lernkanals lerforderung bei YouTube. Sie hat mehrere lerntherapeutische Einrichtungen geleitet, Fortbildungen für Lehrer*innen veranstaltet und zahlreiche Bücher und Lernmaterialien veröffentlicht. Ihre Lernvideos werden derzeit über 300.000 mal im Monat aufgerufen.

1. Was ist lernen eigentlich?

Frage: Beim Thema „Lernen“ denken die meisten von uns an Schule. Doch im besten Fall lernen wir doch unser ganzes Leben lang – vor allem Kinder lernen doch eigentlich ab dem Tag ihrer Geburt, oder?

Reimann-Höhn: „Selbstverständlich lernen Kinder vom ersten Tag an. Dabei geht es darum, das ganz persönliches Lebensumfeld zu entdecken, ihren Körper zu beherrschen und Beziehungen aufzubauen. Das sind die Voraussetzungen dafür, die Lerninhalte nach und nach zu erweitern. Denn – erst wenn das Kind laufen gelernt hat, kann es mit anderen fangen spielen.

Die vorrangigen Lerninhalte in der Schule, also Lesen, Rechnen und Schreiben, würden ein Säugling noch überfordern. Erst im Alter von 5-7 Jahren ist das kindliche Gehirn so weit, diese fremden und abstrakten Lerninhalte aufzunehmen.“

Einschulung
Einschulung – jetzt geht es los!

2. Warum werden Lernfelder getrennt?

Frage: Ist es gut, dass wir diese unterschiedlichen Lernfelder – also, das Leben und die Schule so sehr unterscheiden und trennen?

Reimann-Höhn: „Tun wir das denn? Erziehung und das Verhalten von Familie und Freunden, aber auch die Erfahrungen im Kindergarten, sind geprägt durch Lernprozesse. Hierbei handelt es sich nicht um Lerninhalte, die unter dem herkömmlichen Bildungsbegriff subsumiert werden, sondern eher um den Erwerb von Fähigkeiten, um in der Gemeinschaft bestehen zu können.

Und nicht selten werden auch im Kindergarten schon Sprachen gelernt, naturwissenschaftliche Zusammenhänge vermittelt oder die Konzentration geschult – eben ganz spielerisch.“

3. Was hat der Lockdown diesbezüglich gebracht?

Frage: Nun haben Eltern und Schüler dieses Jahr während des Lockdowns und Homeschoolings ja erstmals eine Vermischung von Schule und Leben, und damit neue Lernwege kennengelernt. Mal unabhängig vom Schulstoff, was glauben Sie (oder haben Sie beobachtet), haben Kinder dadurch lernen können?

Reimann-Höhn: „Meiner Ansicht nach sind die Erfahrungen und Einschränkungen aus der Zeit des Lockdowns für Erwachsene wesentlich einschneidender gewesen als für die Kinder. Sicherlich haben sie ihre Klassenkameraden vermisst und vermutlich auch Ängste vor der Pandemie entwickelt. Kindern gelingt es aber in der Regel sehr viel besser als Erwachsenen, Situationen einfach zu akzeptieren und damit umzugehen.

 Auf der praktischen Ebene hat sicher die Digitalisierung in vielen Familien Einzug gehalten. Der Umgang mit digitalen Medien ist vermutlich selbstverständlicher geworden, die Nutzung von Videosoftware unterschiedlichster Art und die Einbindung des digitalen Lernens in den Alltag wurde dadurch in vielen Fällen beschleunigt.

Viele Kinder haben es zumindest anfangs sehr genossen, dass die Familien zusammengerückt sind. Bei einem offenen Umgang mit der Problematik und einer sinnvollen Aufteilung der Verantwortung haben viele Kinder sicherlich auch von der Ausnahmesituation profitiert.

 Aber es gibt natürlich auch die Kehrseite der Medaille. Familien mit geringen Ressourcen, hoher Belastung und vielen Problemen hatten es schwer. Hier haben auch die Kinder gelitten und vermutlich keine positiven Lernerfahrungen machen können.“

Homeschooling
Zoom oder was?

4. Was bringt der Alltag in Bezug auf das Lernen?

Frage: Welche Themen und Fertigkeiten können unsere Kinder denn überhaupt in der „Schule des Lebens“ lernen, also im Alltag?

Reimann-Höhn: „Im Alltag können Kinder immer wieder ihre Grenzen austesten und ausprobieren, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sie bereits beherrschen. Dabei geht es in erster Linie um die Selbstständigkeit. Dinge alleine tun, alleine einkaufen gehen, alleine verreisen, alleine in einen Sportverein gehen, sich etwas zutrauen, ein Problem alleine lösen, Verantwortung übernehmen und Schwierigkeiten bewältigen.

Die Familie dient dabei zum einen als Vorbild und zum anderen als Sicherheitsnetz, das immer dann zum Tragen kommt, wenn ein Kind alleine nicht mehr weiter weiß.“

5. Was schadet der Neugierde?

Frage: Die meisten Kinder kommen ja mit einer großen Portion Neugier und Wissensdurst auf die Welt. Wie können Eltern diese Neugierde möglichst lange wach halten? Oder umgekehrt: Was nimmt Kindern diese natürliche Neugierde?

Reimann-Höhn: „Kinder haben Lust zu lernen und wollen auch ständig lernen. Dieses Gefühl wird angefeuert durch Erfolgserlebnisse, letztlich eine intrinsische Motivation. Eltern müssen ihren Kindern also immer wieder Gelegenheiten schaffen, in denen diese selber eine Leistung erbringen können. Die Aufgabe muss so anspruchsvoll sein, dass ein Kind sie gerade so bewältigen kann. Das motiviert und macht Lust darauf, ein weiteres Erfolgserlebnis zu erleben.

Um das zu erreichen, müssen Kinder auch lernen Langeweile auszuhalten und selber Ideen zu entwickeln. Medienfreie Zeiten sind dafür sehr wichtig. Aber auch der regelmäßige Kontakt mit Gleichgesinnten, Erlebnisse mit der Familie und Hobbys erweitern den kindlichen Horizont und führen zu Erfolgserlebnissen.“

6. Wie entsteht Lernfreude?

Frage: Wie kommen Kids in den Flow, und können wir Erwachsene etwas dafür tun?

Reimann-Höhn: „Wenn ein Kind ins Spiel versunken ist, kann man schon von einem Flow sprechen. So gesehen beherrschen Kinder diese Vertiefung in eine Tätigkeit bereits sehr viel besser als Erwachsene. Um sich diese Fähigkeit zu erhalten, sollten Kinder so wenig wie möglich aus einem Spiel gerissen werden.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist natürlich auch, eine Tätigkeit zu finden, die begeistert. Das gelingt nicht immer auf Anhieb. Für eine bestimmte Tätigkeit, vielleicht ein sportliches Hobby oder ein spezielles Sachgebiet, muss häufig eine Anfangsbarriere überwunden werden. Vielleicht fehlt erstmal der Mut, das Vorstellungsvermögen oder die Geschicklichkeit.

Eltern und Kind sollten sich auf jeden Fall immer auf einen bestimmten Zeitraum einigen, über den das Kind eine neue Tätigkeit verfolgt, bevor es diese wieder beendet. Ehrliches Lob und Anerkennung helfen dem Kind dabei durchzuhalten.“

7. Was hilft in der Pubertät?

Frage: Wenn Kinder allmählich zu Jugendlichen werden, tritt oft eine große Unlust auf. Haben Sie ein paar Geheimtipps, wie man auch bei Teenies noch das Interesse für Neues wecken kann?

Reimann-Höhn: „Die große Unlust tritt nicht in jedem Bereich auf, sondern betrifft eben genau jene Themen, die den Eltern wichtig sind – zum Beispiel das Lernen für die Schule. Dafür wird das Interesse an anderen Bereichen größer, zum Beispiel an Musik, Computerspielen oder der Liebe.

Jugendliche orientieren sich an ihrer Peergroup und interessieren sich für Dinge, die ihren Freundinnen und Freunden wichtig sind. Eltern bleibt in der Pubertät nicht viel anderes übrig, als immer wieder freundliche Angebote zu machen.

Diese werden in den meisten Fällen abgelehnt, aber manchmal erwischen Eltern auch ein Zeitfenster, in dem Jugendlichen gut erreichbar sind. Das gilt es zu nutzen.“

8. Was hilft durchzuhalten?

Frage: Wie wichtig ist das Thema „Dranbleiben“ fürs Lernen? Viele Kinder und Jugendliche lassen sich zwar schnell für Neues begeistern, hören aber auch relativ schnell wieder auf.

Reimann-Höhn: „Es ist ja nicht unbedingt schlecht, immer wieder etwas Neues auszuprobieren. Schließlich müssen Jugendliche ja erst herausfinden, was ihnen liegt und wofür sie brennen. Sofern die Eltern für eine bestimmte Unternehmung zahlen, sollte eine gegenseitige Vereinbarung über die Dauer geschlossen werden. Die Tochter möchte Tennisspielen? Dann übernehmen die Eltern die Kosten für den Kurs nur, wenn sie sich darauf einlässt, diesen drei oder sechs Monate lang durchzuziehen.“

9. Wie sinnvoll ist Lernhilfe durch Medien?

Frage: Man kommt nicht umhin bei diesem Thema auch die elektronischen Medien anzusprechen: Einerseits bietet das Internet und auch manche Games selbst einen großen Wissens- und Lernpool, andererseits sind sie in vielen Familien Streitobjekt, weil sie zu sehr ablenken, abstumpfen und sogar abhängig machen. Welche Tipps geben Sie?

Reimann-Höhn: „Medienkompetenz ist ein ganz zentrales Thema, das sowohl in den Familien als auch in den Schulen immer noch viel zu kurz kommt. Die elektronischen Medien gehören zum Leben längst dazu, sie sind nicht mehr wegzudenken und haben viele traditionelle Lernformen abgelöst.

Dieser Entwicklung wird immer noch viel zu wenig Rechnung getragen.

 Für Jugendliche ist es längst selbstverständlich, und das schon seit vielen Jahren, sich mit digitalen Medien zu informieren und den Schulstoff aufzuarbeiten. Ganz langsam zieht dieses Wissen auch in die Klassenzimmer ein. Immerhin gibt es schon Lehrerinnen und Lehrer, die an ihren Whiteboards gute Lernvideos zeigen – und sogar langsam selber Videos entwickeln.

Meiner Ansicht nach gehört an jede Schule ein hauptberuflicher Medienexperte, der sowohl mit den Eltern als auch mit den Schülerinnen und Schülern und den Lehrkräften die Arbeit mit digitalen Medien erlernt.

 Fast 100 % aller Jugendlichen besitzen ein internetfähiges Smartphone, diese Entwicklung ist auch nicht mehr zurückzudrehen. Hier muss endlich sinnvoll reagiert und sehr viel konsequenter informiert werden.“